Viktor Frankls originäres Konzept der Logotherapie und Existenzanalyse umfasst eine grundlegende Theorie über die Möglichkeiten und Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein (Logotheorie). Abgeleitet aus der Existenzphilosophie formulierte Viktor Frankl mit seiner Anthropologie ein Existenzverständnis, das der besonderen Eigenart des Menschseins gerecht zu werden versucht. So spezifiziert er das Wesen von Existenz dahingehend, dass diese „eine Seinsart ist, und zwar das menschliche Sein, das dem Menschen arteigene Sein, dessen Eigenart darin besteht, dass es sich beim Menschen nicht um ein faktisches, sondern um ein fakultatives Sein handelt, nicht um ein Nun-einmal-so-und-nicht-anders-sein-Müssen […], vielmehr um ein Immer-auch-anders-werden-Können“. Daher sei menschliche Existenz das einzige Sein, welches nach dem Sinn konkreter Fakten und ihres eigenen Seins fragt.

Diese spezifische Seinsart des Menschen ist gekennzeichnet durch das Zusammentreffen dreier voneinander verschiedener Seinsaspekte, wonach der Mensch physisch (leiblich), psychisch (seelisch) und noetisch (geistig) zugleich sei. Alle drei Dimensionen menschlichen Daseins sind verwoben und stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Während die physische und die psychische Dimension in engem Zusammenhang stehen (psychophysischer Parallelismus), kann sich der Mensch kraft seiner geistigen Dimension über sein Psychophysikum erheben. So setzt sich der Mensch nicht aus den drei Seinsaspekten zusammen, wohl aber setzt sich das Geistige im Menschen mit dem Psychophysikum auseinander. Da die geistige Dimension von den anderen beiden verschieden und unabhängig ist, kann nicht unmittelbar vom Zustand des Psychophysikums auf jenen des Geistigen geschlossen werden. So muss beispielsweise etwas, das auf der leiblichen oder psychischen Ebene entlastend oder lustvoll sein mag, nicht unbedingt auch auf der geistigen Ebene als sinnvoll erfahren werden. Umgekehrt muss, was dem Menschen wert- und sinnvoll erscheint, ihm in psychischer oder körperlicher Hinsicht nicht immer angenehm sein oder unmittelbare Befriedigung erzeugen. Frankl ersann mit der Logotherapie und Existenzanalyse somit einen Ansatz, der in besonderer Weise auf die hervorgehobene Stellung der geistigen Dimension des Menschen abzielt.

Diese geistige Dimension erlaubt es dem Menschen, in Distanz zu sich selbst zu kommen (Selbstdistanzierung) und dadurch der Welt in Freiheit und eigener Verantwortung offen gegenüberzustehen (Selbsttranszendenz).Die existenzanalytische Anthropologie betrachtet den Menschen somit als grundsätzlich entscheidungs- und willensfreies Wesen, das befähigt ist, sich gegenüber seinen inneren und äußeren Bedingtheiten zu verhalten und über sich selbst hinaus auf Sinn und Werte auszurichten. Durch diese potenzielle Willensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit ist der Mensch aufgefordert, über sich selbst und seine eigene Begrenztheit hinauszugelangen: Zwar ist der Mensch nie frei von Bedingtheiten und Prägungen persönlicher, typologischer, biologischer, sozialer und kultureller Art, doch innerhalb dieser Gegebenheiten trifft er täglich auf unzählige Situationen, die ihn herausfordern, mit ihnen in für ihn bestmöglicher Weise gestaltend umzugehen. Indem der existenzanalytische Ansatz weniger nach determinierenden Prägungen und Anlagen, sondern vielmehr nach der Unmittelbarkeit im eigenen Erleben und der Lebensgestaltung fragt, wird er dem (Aufforderungs-)Charakter gerecht, den das Leben für den Menschen hat. Durch die Rückbesinnung auf dieses eigene Welterleben gibt Frankl der Sinnfrage eine kopernikanische Wendung, wonach es das Leben selbst ist, das dem Menschen Fragen stellt. Nicht er hat zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten, das Leben zu verantworten hat.

Kann der Mensch seinen Willen zum Sinn in der Lebenspraxis nicht zur Geltung bringen, entstehen bedrückende Sinn- und Wertlosigkeitsgefühle. Die existenzielle Frustrierung des Sinnbedürfnisses kann psychische Erkrankungen auslösen oder verstärken. So spielt in der angewandten Logotherapie und Existenzanalyse das Herausheben der geistigen Dimension eine zentrale Rolle, etwa indem sie dem leidenden Menschen existenzielle Handlungs- und Erlebensfreiräume gegenüber somatischen oder psychischen Erkrankungen aufzuschließen versucht und ihm durch die Differenzierung von (psychophysischem) Symptom und (geistiger) Person einen entscheidenden Teil seiner Selbstbestimmungsfähigkeit und Würde zurückgibt. Vor diesem Hintergrund meint die Existenzanalyse stets eine Analyse „auf Existenz hin“, nicht eine abstrakte Untersuchung von Existenz an sich, sondern jener konkreten existenziellen Bedingungen, die zu einem wertvollen und eigenverantworteten Leben führen.

In der Beratung und psychotherapeutischen Behandlung steht nach logotherapeutischer Auffassung die Bewusstmachung und Stärkung des Geistigen im Fokus, welche den Menschen (wieder) befähigen soll, die individuellen und einzigartigen Sinnmöglichkeiten, die in jeder Situation verborgen liegen, aufzuspüren und in sich und der ihn umgebenden Welt zur Geltung zu bringen .